Letzte Wohnung

Lue verlässt ihre letzte Wohnung nach einem starken Regen. Licht aus tausend Reflektionen tanzt die leere Straße auf und ab, eine feuchte Stille, die nur vom Zufallen der Tür hinter ihr kurz durchbrochen wird. Lue blinzelt und erst jetzt realisiert sie, dass sie obdachlos ist, ohne Job, ohne Wohnung. Sie zieht ihren Koffer an sich und versucht zu überlegen, wohin sie gehen soll.
Im Zug stellt sie sich schlafend und heute hat sie Glück. Noch sieht sie nicht zu heruntergekommen für den Schaffner aus. Sie gleitet dahin und die Frage mit ihr.

Sie steigt dort aus, wo sie immer ausgestiegen ist und folgt dem Muster des Bahnsteigs. Die alte Laterne kommt in Sicht und beherzt schwingt sie sich an ihr um die Ecke und wundert sich zunächst gar nicht, wieso sie das machen kann. Erst als sie wieder auf beiden Füßen steht, überkommt sie das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Verwirrt sucht sie den Boden nach ihrem Koffer ab, der Zug fährt gerade weiter und halb erwartet Lue, den Koffer am Fenster zu sehen, seine traurigen Augen auf sie gerichtet, der sie verlassen hat. Lue greift in ihre Hosentasche, um ihr Handy hervorzuholen, aber ihre Hände greifen ins Nichts. Sie hat kein Telefon, keine Möglichkeit irgendjemanden zu erreichen.

Fußschritte nähern sich und Lue schaut auf. Ein junger Mann kommt ihr entgegen und rempelt sie im Vorbeigehenden so stark an, dass Lue beinahe zu Boden fällt. Sie schaut dem Fußgänger entgeistert nach und dabei fällt ihr Blick zum ersten Mal auf die Gebäude, die sie umgeben. Dunkle Backsteinbauten ragen wahllos in die Höhe, auf einem Spielplatz lungern Jugendliche mit Zigaretten, ihre Blicke auf Lue gerichtet. Der Boden unter ihr schwankt und für einen Moment hat sie das Gefühl zu fallen. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist.

Ein greller Pfiff kündigt den nächsten Zug an und plötzlich kommt Bewegung in die Szenerie. Die Jugendlichen springen auf, aus allen Häusern strömen die Leute, ein aufgeregtes Summen liegt in der Luft. Lue wird von der Menge zurück zum Gleis gezogen, während der Zug heranschnellt und in den Bahnhof rollt. Die Menschen jubeln und sprinten zu den Türen, die offen bereit stehen. Sie wird zu Boden gestoßen und schafft es geradeso die Stöße und Tritte der Füße und Beine abzuwehren.

Mit Mühe robbt Lue an den Rand und bleibt schließlich im Freien liegen. Der Strom an Menschen rauscht weiter an ihr vorbei. Irgendwann löst sich eine freundliche Gestalt aus der Masse und hält ihr eine Hand hin, aber sie versteht das Lächeln über ihr nicht und der nächste Pfiff des Zugs lässt die Gestalt wieder in der Menge verschwinden. Das Summen der Menschen vermischt sich mit den Geräuschen des Zuges und schwillt zu einem wilden Grollen an, als der Zug ausfährt. Lue stützt sich auf und zieht sich auf eine der Wartebänke, die das Gleis säumen. Alles ist ruhig, niemand ist mehr hier, der Zug schon verschwunden. Lue wartet.

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