Reflex

Der Andere stand gestern wieder am Strand, er kommt seit Wochen und immer gegen Abend. Plötzlich taucht seine Gestalt zwischen den Bäumen am Ufer auf und verharrt ohne eine Bewegung, bevor sie wieder verschwindet. Seine lautlose Annäherung verrät ihn, denn die anderen Schaulustigen geben sich niemals die Mühe leise zu sein, und erst durch seine Vorsicht bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Manchmal bin ich mir fast sicher, er weiß von mir. Sein Schauspiel ist nur für mich, eine schweigsame Konversation über die Tiefe des Sees, seine Wellen und das Wabern des Mondlichts, das nie bis an sein Gesicht gelangt. Er ist mein Bruder auf der anderen Seite, ein stummer Wächter, der hofft, dass seine Funktion niemals herausgefordert wird.

Aber heute fehlt deine Präsenz. Das Mondlicht wird durch die regelmäßigen Bewegungen der Scheinwerfer ersetzt, aber ich spüre, dass du nicht da bist, dein Platz ist leer und ich bleibe allein in der Dunkelheit.

Mein Blick geht geradeaus, vielleicht kommst du noch, vielleicht ist es noch nicht zu spät.

Die Scheinwerfer zucken wieder vorwärts und für einen Moment sehe ich die Ringe in der Mitte des Sees. Ich hebe mein Fernglas und sehe deine Gestalt in langsamen Zügen durchs Wasser gleiten. Deine Bewegungen sind ruhig und bedacht und das Wasser lässt dich gewähren.

Ich bin erstarrt, unfähig zu handeln, und erst der Schrei vom anderen Turm lässt mich aufschrecken. Wie im Reflex hebe ich mein Gewehr und dein Körper schreit kurz auf, bevor er verstummt.

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