Die Amateurin

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Lue hielt inne und ließ ihre Gedanken über die Kamera in ihren Händen gleiten. Die Demonstranten zogen schreiend weiter unter konsequenter, selbstgewählter Überwachung. Lue schaute hoch zu den Dächern und den Leuten auf den Balkons, die das laute Spektakel, den neusten Protest, beobachteten und aufzeichneten.

Der Zug kam zum Stehen und die Stimmen wurden wütender. Uniformierte sperrten die Straße ab, eine Mauer aus Plastik und Leder stellte sich der Masse entgegen. Fotografen wuselten aufgeregt vorbei, um weiter nach vorne, zum besseren Bild, zu kommen. Lue steckte ihre Kamera und folgte ihnen, bis sie von der Masse aufgesogen wurde und nicht mehr vorwärtskam. Sie ließ sich eine Weile treiben, dann kämpfte sie sich zum Rand und blieb stehen. Es begann zu regnen und die Menge weichte langsam auf. Sie holte die Kamera hervor und schoss ein paar Mal in die Menge grauer Hinterköpfe und halbverdeckter Gesichter.

Sie spürte, wie der Spiegel ihrer Kamera das Licht transportierte, wie ein imaginierter Film an der Stelle, an der nun der kleine digitale Sensor lag, belichtet wurde und ein Bild formte. Plötzlich rollte ein Ball aus der Menge hervor, holperte über die Füße der Menschen und instinktiv drehte sie am Zoom und drückte ab. Ein kleines Mädchen kam kurz darauf aus der Menge hervor und lief dem Ball hinterher.

„Entschuldigung…“

Sie wurde beiseitegedrängt. Eine Frau schob sich in ihr Sichtfeld und begann ein Foto nach dem anderen zu machen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann strebte sie weiter nach vorne. Ihr Blick streifte Lue oder die kleine Kamera in ihren Händen kurz.

Der Regen hatte wieder aufgehört und die Stimmen gewannen ihre Kraft zurück, schrille Megaphone verstärkten den Hype. Lue ließ sich in einen Hausaufgang drängen und sah zu, wie die Uniformierten langsam zurückwichen, hinten hatten ihre Einsatzwagen die Straße schon blockiert.

Aber Lue dachte an den Blick der Frau, ihr Zeichen instinktiver Missbilligung. Sie klammerte sich an ihre Kamera und wusste, dass alle ihren Dilettantismus sehen konnten. Sie fotografierte ohne Auftrag, sie romantisierte nur den Akt.

Der Zug drückte weiter vorwärts, aber sie hatte die Lust an ihm verloren.

Sie blieb Amateurin. Und wie alle wahren Liebenden wünschte sie.

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